Poetik der Verführung
Zu neuen Bildern von Martin Schnur
Margit Zuckriegl
Von je her ist das Thema der Verführung, des Eros, des undefinierbaren Zwischenmenschlichen eine Konstante in der Kunstgeschichte gewesen. Und es ist nicht einfach der „weibliche Akt“, der von der „Schlafenden Venus“ des Giorgione bis zur „Olympia“ von Edouard Manet, von Cranach bis Goya und bis hin zu John de Andrea und Araki reicht; es ist das Geheimnisvolle und nicht ganz Auszulotende, das mit dem Bild der Frau, zumal der ihrer Kleider, ihrer Hülle entledigten Frau, verknüpft ist. Es geht immer um ein labiles Gleichgewicht, um einen Moment vor dem Kippen, um eine Situation an der Schwelle, zwischen zwei Blicken, zwei Türen, zwei Zuständen. Giorgiones Venus: schläft sie oder blickt sie nur in sich hinein, ist sie das Bild einer bestimmten Frau oder das Inbild der Idee von Schönheit und Erotik? Manets Olympia: Kurtisane in Erwartung ihres Liebhabers oder verführerische Kindfrau mit Spieltrieb? Und Martin Schnurs neue Bilder von liegenden, nackten Frauen vor dichtem Waldgrün oder glasklarem Himmel?
Frauen am Rande des Wachseins
Martin Schnur hat sich seit seinen frühen Arbeiten der ausgehenden 1990er-Jahre mit dem menschlichen Bildnis auseinandergesetzt. Er hat allerdings das Genre des Porträts in eine Art von „szenischem Menschenbild“ erweitert und damit gleichsam eine eigene Bildform geschaffen, die zwischen Porträt und Landschaft, zwischen Malerei und Film, zwischen Realität und Fiktion angesiedelt ist. Seine „Menschendarsteller“ könnten dem Repertoire eines „film noir“ entsprungen sein, plötzlich erstarrte Protagonisten einer geheimnisvollen Szene, aus dem Verborgenen anvisierte Personen bei einem heimlichen Tun. Nicht umsonst sind die Lieblingsfilme des Cineasten Schnur Streifen wie „Blow up“ von Michelangelo Antonioni oder „Rear Window“ von Alfred Hitchcock, in denen es jeweils ums Zuschauen und Verstecken, ums Beobachten und Beobachtetwerden geht. Das vermeintlich Nicht-Sichtbare wird immer näher herangezoomt und der zunächst nicht-wissende Zuschauer wird zum Interpreten einer scheinbar eigens für ihn inszenierten Handlung. Immer dreht es sich um simultane Abfolgen von gleichzeitig sich ereignenden Begebenheiten: der Film im Film entspricht dem Bild-im-Bild-Schema, dessen sich auch Martin Schnur in seinen komplexen Bild-Synthesen bedient. Für ihn ist das Ineinanderschieben von Schilderungen eine Verdichtung der Bild-Erzählung: „Ein Bild jagt das andere; die Verknüpfung ist die Herausforderung“, sagt Martin Schnur und erklärt einerseits sein duales Bildschema, ohne dabei andererseits die „offene Situation“ im labilen Verhältnis der beiden Bilder zueinander genau durchzudeklinieren. Er will Freiraum stehen lassen, die Möglichkeit für den Betrachter offen lassen, sich und seine Assoziationen in die Bildbedeutung miteinzubringen: „Meine Bilder sind nicht esoterisch oder mystisch. Sie sind ganz nüchtern. Man soll sie so sehen, wie ich male: realistisch und direkt. Natürlich ist dann immer noch etwas in den Zwischenräumen offen.“
In dieser vagen Sphäre des Dazwischen agieren seine Frauen am Rande eines Wachzustandes. Sie bewegen sich somnambul in neutralen, weißen Kleidern auf dunklen Wiesen oder vor anrollenden Wellen, sie liegen wie bewusstlos auf weißen Laken oder bräunlichen Sofas – sinnend im Halbschlaf, gedankenverloren im stummen Staunen, so sind sie in der Bildwelt, so sind sie bei sich und weisen doch darüber hinaus.
Der Blick ins Leere
Der Betrachter wird normalerweise durch eine Bildfigur, die ihn direkt anblickt, ins Bildgeschehen hineingezogen. Giambattista Tiepolo war der absolute Meister dieses hochsensiblen Netzes von Hin- und Wegblicken, von Her- und Abwenden in seinen vielfigurigen Kompositionen. In den Bildern von Martin Schnur geschieht es äußerst selten, dass eine Person aus dem Bild heraus den Betrachter anblickt. Dennoch – oder gerade deshalb – entsteht eine enorme Faszination, ja geradezu eine visuelle Sogwirkung, die von den Menschen ausgeht, die sich in Schnurs Bildwelten abwenden, sich in den Binnenraum hineindrehen. Sie nehmen den Betrachter mit, lassen ihn über die Schulter zuschauen, eröffnen einen Halb-Raum, den sie partiell verdecken, dem sie aber gänzlich angehören. Der Raum, den sie definieren, ist ein Raum der Verführung, des Atem-Anhaltens und des ungewissen Wagens. Wie Jan Vermeer seine Bildräume aus Farbe schafft, wie er Räume hintereinander anordnet und scheinbar klar gliedert, nur um dann die Szene im Verdunkeln ausklingen zu lassen, das sind subkutane Bildstrategien, die Martin Schnur immer wieder ins Kunsthistorische Museum ziehen und vor Vermeers „Allegorie der Malkunst“ verharren lassen.
Der nach innen gesenkte Blick der Menschen, die abgewandte Haltung, die Bildräume voller Andeutungen und Anmutungen – diese dichten Gefüge von Bezüglichkeiten sind wie geheime Fäden, an denen sich die Bildzählungen wie in einer verborgenen Dramaturgie entwickelt. Zum Leisen, Subtilen, Langsamen in den Bildern gesellt sich das Luminose. Ein unwirkliches Scheinen, mehr als ein drastisches Bildlicht, legt sich über die Szene und konturiert die Komposition. Für Schnur sind es nicht „Lichtquellen“, die ihn interessieren, sondern „lichtrelevante Situationen, also so etwas wie Reflexionen; das kann sich über Spiegel ereignen, die Licht bündeln und brechen oder über Wasserflächen, die die Welt in zwei Ebenen teilen“.
Die Geschichte der Schönheit
In den Bildräumen, die Martin Schnur entwirft, spielen sich Szenen und Geschichten ab, deren Inhalte dem Reich des Unsichtbaren zugeordnet werden müssen. Was sie preisgeben, ist ein momentaner Einblick in einen nicht näher zu definierenden Ablauf, ein prekäres Anhalten des Erzählstranges, eine unsichere Verortung von verschiedenen Situationen. „Das Bild ist ein Ort“, sagt Martin Schnur, „aber es geht immer um mehrere Orte gleichzeitig“, das Bild ist eine Geschichte und gleichermaßen mehrere Geschichten, ineinander verwoben. Martin Schnur erzählt die Geschichte der Schönheit mit den Mitteln der Verführung: er konstruiert eine Poetik der Verführung, die auf Blicken und Versprechen basiert, auf der lyrischen Entsprechung von exotischen Blumen und ruhenden Menschen, von dunklem Walddickicht und unerklärlichen Personen. Eine „übersinnliche Schönheit“, wie sie Umberto Eco[1] für die Frührenaissance konstatiert, hat etwas mit dem Unerklärlichen, Nicht-Fassbaren, Entrückten von komplexen Bildgestaltungen zu tun und übertrifft damit jeden platten, kalkulierten Erotisierungsgestus. Die Geschichte einer vagen, geahnten Schönheit in den Bildern von Martin Schnur ist in der Gegenüberstellung von Aussprechen und Verschweigen begründet, einer Dialektik des „Verhüllens und Bloßlegens“[2]. Die Macht der Verführung, die geradezu magische Anziehungskraft, die diesen Bildern eignet, rührt von dem subtilen Eros in der Bezüglichkeit zwischen den Blicken, in den undefinierten Räumen, dem magischen Licht und der filmähnlichen Entfremdung. „Eine Person ist für mich interessant genug, bei mir gibt es keine Figurenbilder. Ich forme meine Szenen durch Ausschnitt, Licht, Malgestus“ – und durch die Verdichtung der Mittel möchte man dem Statement von Martin Schnur anfügen. Auch die Bilder, die nicht durch die Bild-im-Bild-Kombination entstanden sind, sind von dieser Fokussierung und Konzentration geprägt. Auch sie changieren zwischen Realität und Fiktion, zwischen angedeuteter Erzählung und imaginierter Welterfindung. Die Beschränkung auf die knappen Bildinhalte und die Überschreitung des üblichen Bildschemas verleihen ihnen eine Aura des Fremden, des Rätselhaften. Wenn ein Bild ein Ort ist, so ist es jedenfalls ein Ort jenseits der Normalen.
[1] Umberto Eco, Die Geschichte der Schönheit, 2002/2004 Mailand, S. 184
[2] Reinhard Priessnitz, Werkausgabe Band 3/1, „Diesseits des Lustprinzips“, Linz 1988, S. 59