Martin Schnur
Texte

Malerei als verschlüsselte Raumkonstruktion
Susanne König

Eine ungewöhnliche Bildkomposition prägt das Werk innere sicht nr1 2008. Ein Mann liegt seitlich auf dem Boden. Seine Arme sind weit zur Seite ausgestreckt und er betrachtet sich selber in der spiegelnden Oberfläche des Bodens. Verträumt lächelt er sich an. Das Bild erinnert an die altgriechische Mythologie des Narziss (Ovid, Metamorphosen, Drittes Buch, Narziss, 339-512), der der Sage nach ein so schöner junger Mann war, dass er von allen Mädchen und Jungen begehrt wurde. Doch niemand konnte sein Herz erobern. Als er auch die Zuneigung der Nymphe Echo zurückwies, erzürnte er damit die Götter, die ihn daraufhin bestraften: Nur noch sein eigenes Spiegelbild in der Wasseroberfläche sollte er lieben können. 

Martin Schnur greift in diesem Gemälde – wie so oft – ein klassisches Bildthema auf, gestaltet dabei jedoch die Bildkomposition völlig neu. Während sonst die Darstellung von Narziss das Zentrum des Bildes beherrscht, drängt Schnur den Körper dicht unter die Bildoberkante, sodass der zum Teil angeschnittene Körper gerade einmal ein Achtel des oberen Bildraums einnimmt. Stattdessen dominiert den größten Teil des Bilds ein undefinierbarer Raum, der lediglich am leeren, dunkelbraunen Boden erfasst werden kann und in dessen oberer Hälfte sich eine seichte Wasserlache befindet. In dieser Lache ist es dem Mann möglich, sich zu spiegeln. Es scheint, dass nicht der Mann, sondern sein Spiegelbild im Mittelpunkt der Betrachtung steht, wie es auch der Titel „Innere Sicht“ andeuten mag. Die Darstellung von Narziss ist dem Bild entrückt, so wie ein Teil des Körpers dem Bild entwichen ist. Inhaltlich hat sich das Bild derart von der altgriechischen Sage losgelöst und stattdessen das Spiegelbild in den Fokus gestellt. Doch sieht sich der Mann wirklich selbst an? Ist das Lächeln nicht etwas verzerrt? Ist es wirklich sein eigenes oder doch das eines anderen? Wenn das Spiegelbild sinnbildhaft für das Innere steht, scheint es für etwas anderes zu stehen als für das, was der Mann vorgibt zu sein. Nicht die übertriebene Selbstverliebtheit, sondern das Verhältnis zwischen dem, was man vorgibt zu sein und dem, was man wirklich ist, interessiert dabei. Der Behauptung, dass das Spiegelbild im Zentrum der Betrachtung steht, widerspricht, dass nicht das Spiegelbild, sondern der Mann selbst beleuchtet ist. Das in den dunklen Raum einfallende Licht lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf den Mann und somit beginnt der Blick der BetrachterInnen zwischen dem Mann und seinem Abbild hin und her zu oszillieren. Das Thema der Spiegelung findet sich oft in Martin Schnurs Bildern. Durch die Verdoppelung scheint der Künstler eine zweite Realitätsebene in seine Bilder einzuschieben. Stellt das Bild sonst eine Form von Fiktion dar, die der Realität gegenübersteht, so scheinen nun Realität und Fiktion selbst in den Bildern integriert zu sein. Diese zweite Realitätsebene durchzieht das gesamte Werk Schnurs. Er entwickelt eine Bild-im-Bild-Methode, die in der Arbeit gegenlicht nr2 2004 zum Ausdruck kommt. Hier malt er auf einer weißen Leinwand zwei separate Bilder: eine realistische Malerei eines Kirschblütenzweigs und eine abstrakte, rote Farbfläche. Die beiden Bilder wirken wie zusammengesetzte Bilder einer Collage, obwohl sie lediglich auf eine Leinwand gemalt sind. In der Arbeit menad 2002 entwickelt Schnur diese Methode weiter, indem er einen jungen Mann vor einen monochromen Hintergrund gemalt hat und dieses Bild wiederum vor einer abstrakten Fläche steht. Allerdings bricht das Bild-im-Bild-Thema langsam auf, da der junge Mann seinen Fuß nach vorne schiebt, mit dem großen Zeh die Bildfläche verlässt und ihn in die andere Bildfläche setzt. Es scheint als würde er die eine Bilddimension verlassen und in die nächste wechseln. Dieses noch zögerliche Überschreiten der Bildgrenze führt Schnur in menad 2003 fort, auf dem nun der junge Mann aus dem weißen Bildhintergrund selbstbewusst seinen ganzen Fuß in die zweite monochrome Farbfläche setzt. Doch nicht nur der Fuß, auch sein Unterarm und ein Teil seines Kopfs überschreiten die Bildgrenze. 

Das Bild-im-Bild-Thema und das Ineinandergreifen unterschiedlicher Bildebenen weitet Schnur in seinen späteren Bildern aus. In dem Gemälde staub 2007 ist etwa ein dunkler Baumgipfel dargestellt, durch den ein Lichtstrahl fällt. Davor befindet sich eine abstrakte, nicht zu definierende Fläche, die wie ein Balken aussieht und auf der eine dünne, nackte Frau mit ausgestreckten Armen liegt. Der Frauenkörper verbindet mit seinen aufgestellten Beinen die beiden Ebenen. Unterhalb der Platte ist ein weiteres Bild gesetzt, das einen Blick auf den sehr viel tiefer liegenden, mit Papiermüll bedeckten Boden zu ermöglichen scheint. In diesem Fall wirkt die abstrakte graue Fläche wie eine Steinplatte, deren Korpus das untere Bild definiert. So vermittelt das Bild auf den ersten Blick den Eindruck, als ob eine Frau mitten im Wald nackt auf einem Sarkophag liegen würde. Martin Schnur kombiniert in seiner Malerei nicht nur unterschiedliche Bildebenen, sondern bricht auch zwischen ihnen auf. Er lässt eine Bildebene die andere überlagern, schiebt sie ineinander, sodass sie sich verzahnen und die BetrachterInnen so sehr irritieren, dass sie nicht mehr wissen, welche Elemente zu welcher Bildebenen gehören. 

Die von Schnur gemalten Personen entstammen unserer Zeit und entsprechen unserem Zeitgeist. Die Frauen sind schlank, fast schon mager und erfüllen die androgynen Modellvorstellungen so mancher DesignerInnen, während die selten gemalten Männer eher durch eine ausgeprägte Physiognomie bestechen. Die Körperhaltungen, der in den Bildern dargestellten Personen, sind indes größtenteils der christlichen Ikonografie der klassischen Kunstgeschichte entnommen. Vor allem das zentrale Thema der „Kreuzigung Christi“ sowie „Christus’ Kreuzabnahme“ scheinen immer wieder für die Komposition der Körperhaltungen Pate gestanden zu haben. Dabei entzieht Schnur den von ihm dargestellten Personen jeglichen ikonografischen Inhalt. Mit ausgebreiteten Armen liegen sie alleingelassen da. Kein Indiz lässt den Ort näher bestimmen oder macht ihn als Ort einer christlichen Handlung erkennbar. Keine weitere Person ist durch Attribute ergänzt und gibt so Aufschluss über eine christliche Szene. So erinnert zwar im Gemälde bipolar (much) 2009 die Körperhaltung des jungen Manns an die „Kreuzigung Christi“, doch die Szene selbst kann, durch das Fehlen jeglicher Attribute, als solche nicht erkannt werden. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass der Mann Jeans und eine Wollmütze trägt und mit nacktem Oberkörper dargestellt ist, wodurch er eher einem Rapper – wie Eminem – ähnelt. Ähnliches trifft auf das Gemälde indoor nr3 2008 zu. Hier lässt die nackt auf dem Boden liegende Figur an den vom Kreuz abgenommenen Christus denken. Doch auch hier entspricht nur die dargestellte Körperhaltung der christlichen Szene, während der Raum, in seiner Undefinierbarkeit, keinen Hinweis darauf gibt. Die Figur selbst verweigert sich regelrecht dieser religiösen Interpretation einer Christusdarstellung, da sie weiblich und nicht männlich ist. 

Während Schnur in seinen frühen Arbeiten hauptsächlich unbewegte, statische Personen gemalt hat, die schlafend oder sogar wie Tote wirkten, lässt er in seine neueren Arbeiten das Moment der Bewegung einfließen. Das Gemälde clairaudient-dynamic 2009 zeigt beispielsweise, wie sich eine junge Frau auf dem Boden wälzt. Als ob sie tanzen würde, wirft sie ihren Kopf zur Seite. Es scheint, als ob Musik ihren Körper durchzucken würde. Sie zieht die Arme dicht an ihren Körper, nur um sie gleich im nächsten Moment wieder von sich wegzudrücken. Doch die Frau tanzt nicht im Stehen, sondern im Liegen – eben das verwundert die BetrachterInnen. Tanzt sie wirklich oder ist sie voller Kraft zu Boden geworfen worden und liegt nun verwundet da? Krampft sich vielleicht ihr Körper im Todeskampf schmerzvoll zusammen, was die vielen Glas- oder Spiegelsplitter um sie herum erklären würde. Ist ihr taumelnder Körper durch Glas gestürzt? Doch eine Wunde ist an ihrem Körper nicht zu erkennen. Weshalb die Frau auf dem Boden liegt und sich von einer Seite auf die andere wälzt, können die BetrachterInnen nicht ausmachen. Das Bild erklärt sich nicht, es gibt keine Angaben. Unbeantwortete Fragen bleiben zurück. 

Zersprungenes Glas oder Splitter von Spiegeln sind immer wieder Bestandteile der Gemälde Schnurs. Sinnbildlich entsprechen sie dem Aufbrechen der malerischen Illusion. Malerei erzeugt Illusion. Indem Schnur jedoch verschiedenen Realitätsebenen in seine Bilder einbaut und einander überlagern lässt, durchbricht er die illusionistische Tradition von Malerei und führt den BetrachterInnen ständig vor Augen, dass es sich hier um Malerei und um nichts anderes als Malerei handelt. Ein ins Bild gesetzter Spiegel kann wie eine weitere Bildebene funktionieren. Indem er zerbrochen ist, verweist er auf die Begrenztheit der illusionistischen Malerei, wie dies die unterschiedlichen Bildebenen ebenfalls zu tun vermögen. In dem Gemälde klirr 2009 ist beispielsweise eine große Glas- oder Spiegelfläche im Wald zersprungen. Stehen geblieben ist lediglich ein dünner gläserner Rand, durch den das einfallende Licht einen Rahmen andeutet. Damit entsteht ein Bild im Bild, das jedoch zerbrochen ist. 

Schnurs Gemälde erinnern an Fotografien. Sie vermitteln eine Nähe, die im Entstehungsprozess angelegt ist. Schnur fixiert seine Ideen in Bleistiftzeichnungen und ergänzt sie mit schriftlichen Erläuterungen. Nach diesen Zeichnungen entstehen dann seine Fotografien, die als eine Art Storyboard fungieren und für die er dann die entsprechende Umgebung sucht. Verlassene, leer stehende Wohnungen boten beispielsweise für die Arbeit innere sicht nr1 2008 die richtige Umgebung, um daraus dunkle, ortlose Räume zu entwerfen. Hier konnte er, damit sich Spiegelungen ergaben, Wasser auf den Boden kippen. In denselben Räumen entstand auch das Gemälde indoor nr3 2008, für das er das Licht mittels Reflektoren umleitete, sodass es die auf dem Boden liegende Frau erleuchtete. Diese inszeniertenFotografien bilden die Vorlagen für seine Malereien. Während vor allem Pop-Art KünstlerInnen vorgefundenes Bildmaterial als Vorlagen für ihre Malereien verwendet haben, entwickelt Schnur die Bildmotive für seine Vorlagen selbst. Die dabei entstandenen Fotoserien erklären, warum seine Modelle meist nicht nur in einem, sondern in mehreren Gemälden auftauchen. 

Manchmal dreht Schnur auch die Vorlage für seine Malereien um 180 Grad – so in der Arbeit bipolar (much) 2009. In diesem verselbstständigte sich das Spiegelbild aus innere sicht nr1 2008 und rückte, indem Schnur seine Vorlage umdrehte, in den Mittelpunkt. Die gespiegelte Figur ist nun auf dem Kopf dargestellt und zum größten Teil vom Bildrand abgeschnitten, sodass sie kaum noch als gespiegelte Person wahrgenommen wird. Stattdessen wurde das Spiegelbild nun selbst ins Licht gesetzt und nimmt damit die zentrale Position ein. Es verselbstständigt sich und wird mit eigenem Leben erfüllt. 

Schnur spielt in seinen Bildern mit Kontrasten und Gegensätzen. Viele seiner Bilder sind von einem Hell-Dunkel-Kontrast geprägt. Der helle Körper im dunklen Raum in der Arbeit bipolar (much) 2009 erinnert an Werke von Caravaggio oder Rembrandt. Natur und Kultur sind integrierte Gegensätze, beispielsweise in ohne titel (oleander) 2004, wo Menschen auf Naturdarstellungen treffen. Reale Abbildungen stehen abstrakten gegenüber, wenn, wie in menad 2003 ein junger Mann mit einer abstrakten Farbfläche kombiniert wird. In der Arbeit staub 2007 wird, durch die Vereinigung von fokussiertem Blick auf den Boden mit einer weiten Aussicht in den Wald, ein detailgenauer Ausschnitt mit der Gesamtansicht kontextualisiert. Es treffen sich Fern- und Nahsicht sowie der Makro- und der Mikrokosmos in den Werken von Schnur. Eben diese Mehransichtigkeit seiner Bilder löst Narration aus. Die BetrachterInnen versuchen, die einzelnen Bilder zusammenzusetzen und aus ihnen Geschichten abzulesen. Dies ist jedoch ein Verlangen, dass Schnur mit seinen Bildern nicht befriedigt. Stattdessen bleiben die BetrachterInnen mit unzähligen unbeantworteten Fragen zurück. Diese Fragen sind es jedoch, die das Interesse der BetrachterInnen an den Bildern wecken und diese in ihrem Gedächtnis verankern lassen.